Ruhe nach dem Sturm
Neuer Monat – und wieder kein Newsletter. Oder wartet kurz, irgendwie ist's doch einer geworden.
Ich ärgere mich. Und schäme mich sogar. So sehr, dass ich eigentlich alles unter den Tisch schweigen wollte, in der Hoffnung, dass niemandem auffällt, dass heute ein neuer Monat startet und ihr um 7.30 Uhr keine Email von mir erhaltet. Ich hatte Themenideen für den Monat. Eine Kooperationsanfrage. Habe so viele Erkenntnisse gesammelt im April, die ich sogar laufend aufgeschrieben habe, in Form von Stichpunkten, um sie hier zu einem schlauen Text zu verarbeiten.
Gemacht habe ich: nichts. Zumindest nichts, was ich euch zum Maianfang präsentieren könnte. Ich weiß, dass es wahrscheinlich so ist, dass die wenigsten wirklich auf meinen Newsletter warten. Aber ich weiß eben auch, dass ihr ihn mögt. Dass es mir Spaß macht, ihn zu erstellen, meine Gedanken und kreativen Ideen zu etwas zu verpacken, das ich euch monatlich am ersten Tag in die Inbox schicke.
Warum hab ich dann nichts vorbereitet? Irgendwas ist ja immer. Ich bin zwar sauer auf mich selbst jetzt, aber ich weiß auch: Der Newsletter hatte im April für mich keine Priorität. Das zuzugeben, finde ich voll legitim. Blöd ist halt nur, dass ich euch jetzt schon einige Monate habe hängen lassen.
Aber was war denn eigentlich los?
Im April…
…habe ich gekündigt (ok, das war noch in der letzten März-Woche, aber gedanklich hat es mich auch im April noch beschäftigt).
…habe ich einen neuen Freelance-Job gestartet (eigentlich war Kick-Off schon im März, aber so richtig los ging es dann im April für mich)
…war ich in einer Firma zu sage und schreibe fünf Jobinterviews eingeladen (ich bewerbe mich laufend und weiterhin, weil mir nur Freelance nicht reicht). Habe einen Persönlichkeits-, einen Logik-Test und eine Case Study gemacht, die ich präsentiert habe. Nach dem 5. Gespräch kam die Absage. Ich bin zu senior-ig für die Rolle. Erst hab ich Rotz und Wasser geheult, einen Tag später war ich dankbar und froh. Ich hätte nicht da rein gepasst.
…habe ich meine Steuererklörung 2023 gemacht und in Deutschland abgegeben
…und habe endlich ein Steuerbüro in Stockholm gesucht und gefunden und bin jetzt mit Ansprechpartnerin an der Steuer 2024 dran. Es ist für mich sooo schwierig, mich in neue Systeme einzuarbeiten. Und Steuer ist halt Steuer, es ist und bleibt zum Kotzen. Für mich also ein so großer Schritt, das jetzt alles aufzuräumen und schon im Laufe des Mais bis Stand jetzt (also 2025) aufzuräumen.
…habe ich das Babyfotoalbum meiner 2. Tochter geschlossen, in Druck gegeben und per Post erhalten. Ein wirklich stolzer und schöner Moment!
…habe ich mit meiner Krankenversicherung in Deutschland aufgeräumt und mit den Ansprechpersonen alles geklärt, wann ich wie kündigen muss, und was bis dahin alles noch übernommen wird.
…habe mich bei meinem Mann in Schweden mit krankenversichern lassen (hier ist eh jede:r versichert, aber wir haben eine private Zusatzversicherung). Dadurch, dass ich ab Juni in Deutschland nicht mehr angestellt bin, stand hier so viel Bürokratie-Mist an, ich hasse es, wirklich. Grrrrrr.
Apropos Versicherungen: Ich habe auch meine Rechtsschutzversicherung checken lassen. Sollte man alles immer wieder mal tun, ist das noch aktuell, passt alles noch… Bei mir passt alles, sehr dankbar dafür.
…habe ich außerdem eine „Lifespan“ (so heißt die Methode) Therapie gestartet. Mehr dazu teile ich im Laufe der Zeit mit euch. Ich bin sehr stolz und dankbar, diesen Weg jetzt zu gehen und freue mich auf alles, was ich für mich lernen, beheben, angehen, ändern kann und auf die Erkenntnisse, die ich machen werde.
Ich habe außerdem – und das war so mit das Größte, was mich Ende April hin beschäftigt hat – einen Namen gefunden für ein „Problem“, das ich seit Jahren – vielen Jahren! – habe. Lange fiel mir nicht auf, dass „es“ komisch ist, dass ich anders als andere Leute vielleicht bin. Dass ich schlecht schlafe, ist mir seit Jahren bewusst. Dass mein Kopf ständig an ist, weiß ich auch. Dass ich – und jetzt kommt’s und es klingt sicher wirklich komisch in euren Ohren – alles in Vierecken sehe und ständig, also wirklich immer, Ecken zähle, ist mir lange nicht aufgefallen. Ich weiß auch nicht, wann das angefangen hat. Ich habe zuletzt an Weihnachten zufällig meinen Schwiegereltern davon erzählt, dass ich immer alles zähle und damit nicht aufhören kann, es nicht in meiner Macht liegt, das zu stoppen. Dass ich parallel ein Lied dazu im Kopf singe, meist eine Strophe, immer wieder, und meine Füße im Takt bewege, hab ich erzählt, und mein Schwiegervater hat sich ernsthaft Sorgen gemacht: Ob ich keine Angst habe, dass der Vogel mal mit mir durchgeht, und irgendwie blieb das hängen. Long story short, ich glaube, das nächste war dann das Kennenlernen mit meiner Psychologin hier in Stockholm eben jetzt im April, bei dem ich kurz anriss, dass ich „das habe“ bzw. „mache“, und sie erklärte direkt, dass sie keine OCD-Therapeutin ist und mir da wahrscheinlich nicht ausreichend helfen kann.
Ich hab vorher das Wort OCD nicht mit meinem Problem in Verbindung gebracht, weil ich ja nicht zwanghaft Hände wasche oder Klinken drücke. Ich habe mich also hingesetzt und zum allerersten Mal gegoogelt, was ich mache: „im Kopf zählen“, „im Kopf Sätze wiederholen“, „Lieder im Kopf wiederholen und zählen“, und dabei bin ich sofort auf eine Website gestoßen, die mir alles, also wirklich alles, über mich sofort erklären konnte. OCD Land heißt die, meine Krankheit nennt sich automatisierter Zählzwang, es gibt den auch als „nicht-automatisch“, das ist, wenn Betroffene Fliesen x mal zählen, bevor sie den Raum verlassen, eine Tür-Klinke 20-Mal betätigen müssen, bevor sie die Tür öffnen. Mein Zwang ist automatisiert, ungewollt, unbewusst. Und ich habe bislang noch keine Ahnung, wie ich ihn in den Griff kriege. Fakt ist aber: Ich will, unbedingt. Denn er belastet mich, ist der Grund, warum ich nachts nicht wieder einschlafen kann, wenn ich aufwache, weil das Gehirn von einer halben Sekunde zur nächsten anfängt 1-2-3-4 in Ecken zu zählen und dazu im Takt ein Liedtext zu wiederholen, immer wieder, bis ich denke, ich drehe noch durch.
Ich habe durch meine Selbstdiagnose so viel schon in mir geheilt, ich habe endlich Antworten auf Fragen, die ich so lange hatte: Warum kann ich so schlecht zuhören (weil ich beim Zuhören immer abgelenkt bin vom Zählen), warum bin ich so schnell so gereizt (, weil Betroffene mit Zwängen schneller aus der Ruhe gebracht werden, weil sie so krampfhaft mit ihrem Zwang, mit der Kontrolle beschäftigt sind), warum denke ich so oft, dass ich so richtig glücklich nie werden kann, dass meine Lebensqualität wegen irgendwas leidet (Antwort: weil ich immer, immer das Thema mit dem schlechten Schlaf habe und Angst habe vor den Nächten und gefangen bin in meinem Kopf).
Ich habe im April viele, viele Podcasts von „Zwanglos“ (dem Podcast des Gründers von OCD Land) sowie einige von „Ohne Zwang“ gehört, dem Podcast von zwei Frauen, die ebenfalls von Zwängen betroffen sind. Ich habe mich in die Neurowissenschaften eingearbeitet, habe gelernt, dass das Gehirn tatsächlich anders arbeitet und aussieht bei Leuten mit Zwangsstörung (man kann nachweisen, dass der Stirnhirnlappen und das Striartum im Frontalkortex bei Betroffenen anders ausgebildet sind als bei “gesunden” Menschen) und, das krasseste für mich: dass Zwänge vererbt werden. Sie werden genetisch weitergegeben, und ich habe innerhalb meiner Familie festgestellt, wo sie herkommen. Ich habe eine Reise durch meine Vergangenheit gemacht, erinnert, dass es eine Zeit gab, in der ich abends, nach dem Nachhausekommen, in jeden Raum geschaut habe, bevor ich ins Bett gegangen bin, ich habe eine Phase gehabt, in der ich meine Wimpern zwanghaft jeden Abend ausgerissen habe. Ich trage Zwänge schon soooo lange in mir, und dass ich jetzt das Puzzle für mich endlich quasi vervollständigt habe, ist ein so großer Schritt und eine so große Erkenntnis, mit der ich mich im nächsten Step jetzt auch noch einer Verhaltenstherapie mit Exposition (Konfrontationstherapie; so nennt man die Therapie, um Zwänge zu behandeln) widmen möchte.
Ey, versteht ihr, warum ich keinen Newsletter schreiben konnte?
Achja, meine Schwester hat geheiratet (in Bayern, und die vier Tage Auszeit in den Alpen war so, so schön!). Ich hatte eine riesig, riesig große Streitsituation mit meinem Mann. Wir waren zweimal im April bei unserer Paartherapie – oh Gott, denkt ihr jetzt, wie viel Therapie braucht sie!? Turns out: a lot anscheinend, hahaha. Aber vielleicht an der Stelle noch die kurze Anekdote: Bei der zweiten Paartherapie-Session in diesem Monat gab es eigentlich gar kein Thema, mit dem wir in die Therapie gegangen sind – und trotzdem haben die 90 Minuten so viel bewirkt. Wir können uns so gut mit einer dritten Person im Raum unterhalten, da herrscht so eine gute, produktive, wohlwollende Atmosphäre, so viel Verständnis, Respekt. Dinge, die wir zu Hause, zu zweit, nicht so hinkriegen würden. Da würde einer den Raum verlassen und die andere die Tür knallen – oder so. Was ich sagen will, ist: Reden hilft, immer, und noch mehr, wenn jemand dabei ist, der das professionell macht. Ich glaube wirklich ganz, ganz fest daran: Jede:r würde von einer Therapie profitieren, ob man die jetzt gefühlt braucht oder nicht, ist egal.
Puh, wow, ist ja doch ein Newsletter geworden.
Ihr wisst auf jeden Fall jetzt, was los ist bzw. war. Ich schäme mich übrigens null dafür, zuzugeben, dass ich anscheinend eine Schraube locker habe. Im besten Fall seid ihr genauso offen und ehrlich und schickt mir wohlwollende Worte oder erzählt mir von ähnlichen Geschichten, die ihr erlebt habt, oder Diagnosen, die ihr bekommen habt.
Wie krass es übrigens ist, dass irgendwie all das nach der Rückkehr von unserer Reise im Januar und Februar und nach der Woche, die ich im Krankenhaus verbracht habe, rausgekommen ist, dass ich so plötzlich so viel bewegt, bewirkt, erkannt, gelöst, in Angriff genommen habe, kann ich kaum glauben. Im letzten Newsletter schrieb ich ja sogar noch, dass ich mir schon auch die Frage gestellt habe: Warum bin ich so krank geworden (mit meinem Bein)? Und irgendwie habe ich hier und jetzt, einen Monat später, die Antwort (oder vielleicht hängt alles null komme nix zusammen und ich rede Stuss): weil ich all das lernen, erfahren, angehen, diagnostizieren, abhaken, lostreten musste. Psyche heilen, Steuer abschließen, Versicherungen aktualisieren. Scheiß Jobinterviews erleben, um zu merken: Moment mal, ne halt. Innehalten!
So, halt mache ich an dieser Stelle jetzt auch mal.
Lasst mich bitte für Juni einen neuen Anlauf starten. Dann wird Living with Lemons schon ein Jahr alt, könnt ihr das glauben!?!? Was für eine Gelegenheit, hier endlich wieder zu den schönen und inspirierenden Dingen zurückzukehren, zu meinem Newsletter-Konstrukt, das ich ursprünglich gebaut und geliebt habe.
Macht euch einen wunderschönen Mai!
Eure
Lea Lou
Danke für’s Lesen, ich hoffe ich konnte euch mit meinen Inhalten auch in diesem Monat inspirieren. Feedback, Fragen zu Themen und Rezepten sowie Kooperationsanfragen nehme ich gerne entgegen via lea.luedemann@googlemail.com.
Bei Interesse an meiner Fotografie und an User Generated Content (UGC) besucht gerne meine Website www.lealuedemann.com. Ich freue mich über Aufträge!
Meinen Blog findet ihr unter www.lealou.me. Und dann gibt es ja noch das Kochbuch: “Happily Healthy” könnt ihr unter anderem hier kaufen!
ich hab deinen Text sehr gern gelesen, vielen Dank! Hab dich gerade entdeckt und abonniert.
Danke für das ehrliche Teilen Lea 💛 Finde es Wahnsinn, wie viele Tests, Gespräche, Case Studies bei vielen Arbeitgebern mittlerweile nötig sind, um dann doch eine Absage zu bekommen. Der Zeitinvest steht in absolut keiner Relation und ist aus meiner Sicht mehr Show als alles andere. Drücke dir die Daumen, dass du bald das Richtige findest 😊.